Richard Hering – Der Mann, die Küche lesbar machte

Es gibt Köche, die Gerichte erfinden – und solche, die ein ganzes Handwerk strukturieren

Es gibt Köche, die Neues erschaffen, und solche, die Ordnung in das Bestehende bringen. Richard Hering gehörte zu den Letzteren.

Geboren 1874 in Leipzig, arbeitete er als Koch, Küchenmeister und Lehrer. Irgendwann stellte er eine Frage, die fast trotzig klang:

Warum wissen wir eigentlich so viel – und schreiben so wenig davon auf?


Die Küche seiner Zeit war ein Ort der Geheimnisse. Rezepte zirkulierten auf Zetteln, Mengen wurden nach Gefühl geschätzt, Wissen blieb in Köpfen hängen wie Dampf unter der Decke. Leidenschaft gab es genug, Systematik zu wenig.

Hering sah darin kein Versäumnis, sondern eine Gefahr. Also begann er, Ordnung zu schaffen – nicht aus Kontrollwut, sondern aus Fürsorge für ein Handwerk, das sein Gedächtnis zu verlieren drohte.


Der Gedanke der Systematik

1907 erschien Herings Lexikon der Küche.

Kein Manifest, keine Selbstdarstellung, sondern ein Navigationsgerät für eine ganze Zunft. Über zehntausend Stichwörter, präzise sortiert, überprüft, nachschlagbar.

Wer wissen wollte, wie man Artischocken putzt oder Aal filetiert, fand nicht bloß eine Beschreibung, sondern eine Struktur. Jeder Eintrag folgte einem Muster: Begriff, Definition, Grundtechnik, Varianten, Querverweise.


So wurde aus Erfahrung Logik. Und aus Instinkt – Methode.

Hering schuf etwas, das bis heute in Küchen gilt: ein gemeinsames Vokabular. Wenn jemand „nach Hering“ arbeitet, weiß jeder, was gemeint ist.

Er übersetzte Handgriffe in Grammatik, und Grammatik in Handwerk.


Ordnung als Rettung

Dass Hering kein Escoffier war, ist kein Makel.

Escoffier inszenierte die Küche und machte sie zur Bühne der Moderne; Hering schrieb die Regieanweisung.

Während Escoffier Abläufe standardisierte, schuf Hering die Begriffsordnung, die Generationen deutscher Köchinnen und Köche verband.


Er dokumentierte, prüfte, systematisierte – ohne Glanz, aber mit Haltung.

Kochen war für ihn kein Ausdruck von Genie, sondern von Verantwortung.

Seine Idee war schlicht und radikal zugleich: Nur was aufgeschrieben ist, kann bewahrt werden. Nur wer benennt, kann lehren.


Er glaubte, dass die Würde der Küche nicht in ihrem Glanz lag, sondern in ihrer Präzision.

Er rettete, was sonst verloren gegangen wäre – das Wissen, das die Hände lehrten, bevor Bücher es fassten.


Zwischen Herd und Hörsaal

Hering lehrte an Berufsschulen, redigierte Fachzeitschriften, schrieb Handbücher, prüfte, verbesserte.

Und doch blieb er kein Theoretiker. Seine Texte waren für Menschen, die schwitzen, planen, nachschmecken.


Typische Einträge klangen so:

> Aal, Zubereitung: Der Aal wird geschlachtet, gehäutet, gesäubert und in Stücke geschnitten. Verwendung: zum Braten, Dünsten, Kochen oder Räuchern. Für Aal grün mit Kräutersauce servieren.

> Artischocke, Vorbereitung: Äußere Blätter und Spitzen abschneiden, Stiel kürzen, Blüte auswaschen, sofort in Zitronenwasser legen. Gekocht oder gedämpft servieren; Herz als Gemüse oder Garnitur.

> Bouquet garni: Kräuterbündel aus Petersilienwurzel, Sellerie, Lauch, Thymian. Zum Aromatisieren von Suppen, Fonds und Saucen. Nach dem Kochen entfernen.

> Béchamelsauce: Grundsauce aus Butter, Mehl und Milch, mild gewürzt mit Salz, Pfeffer, Muskat. Dient als Basis für Gemüse-, Eier- und Fleischgerichte.

> Blanchieren: Kurzzeitiges Überbrühen in kochendem Wasser, danach sofortiges Abschrecken in kaltem Wasser. Zweck: Farbe, Geschmack und Struktur erhalten.


Keine Ausschmückung, kein Tonfall, der gefallen wollte – nur Genauigkeit.

In einer Zeit ohne verbindliche Ausbildung war das Revolution.

Bevor es Datenbanken gab, baute Hering eine: aus Papier und Geduld.

Man könnte sagen, er war der erste Wissensmanager der Küche – und ihr Archivar.


Nachklang

Hering starb 1943, in einer Welt, die wieder im Chaos versank.

Vielleicht war seine Arbeit gerade deshalb so bedeutsam: weil sie Ordnung suchte, wo sonst nur Lärm war.


Herings Lexikon der Küche wurde weitergeführt, überarbeitet, neu aufgelegt.

Mehr als dreißig Auflagen später steht es noch immer in Küchen – fettig, aufgeschlagen, mit gebrochenem Rücken.

Es steht da wie ein Werkzeug, das nie nach Ruhm fragte.


Richard Hering war kein Star, sondern ein System.

Er hat die Küche nicht revolutioniert – er hat sie lesbar gemacht.

Seine Sprache war die Grammatik des Handwerks, seine Präzision eine Form von Zuneigung.


Ordnung war für ihn kein Gegensatz zur Kreativität, sondern ihre Voraussetzung.

Und vielleicht liegt genau darin seine bleibende Größe:

Er zeigte, wie man Wissen so festhält, dass es auch in der Hitze des Alltags nicht verbrennt.


> „Ordnung ist die stillste Form des Respekts.“

> Ein Satz, den Hering nie schrieb – aber den sein Werk in jeder Zeile atmet.


Kurzbiografie


Richard Hering (1874–1943)

Geboren in Leipzig.

Ausbildung und Arbeit als Koch in Deutschland und der Schweiz.

Seit 1899 im Schuldienst, später Lehrer und Fachautor in Berlin.

1907 erschien erstmals *Herings Lexikon der Küche*, das er bis zu seinem Tod fortentwickelte.

Nach 1943 führten Kollegen und Schüler das Werk weiter; es gilt heute als Standardreferenz der deutschsprachigen Kochkunst – vergleichbar mit Escoffiers *Guide Culinaire* in Frankreich.


Das Buch lebt weiter – in den Händen, die daraus lernen.

Zwischen Fettflecken und Eselsohren liegt ein Stück Kulturgeschichte:

die stille Ordnung eines Mannes, der wusste, dass Präzision nichts mit Kälte zu tun hat.