Marktreise - Mit`m Messer unterwegs

Acht Regeln und eine Schale Schnecken

Echt. Ungeschminkt. Die Wahrheit.

So stand es später auf dem Notizbuch, das Tony mir zum Geburtstag schenkte. Damals, an dem Abend, an dem alles anfing, stand da noch gar nichts. Nur wir zwei, der Platz, der wie ein Ofen atmete, und eine Schale Schnecken.


Unsere 8 Regeln

  1. Wir reisen, um zuzuhören. O-Töne vor Meinungen.
  2. Wahrheit statt Perfektion. Patina schlägt Politur.
  3. Menschen statt Motive. Keine Kulissenblicke.
  4. Essen ist politisch. Macht, Preise, Raum.
  5. Subjektiv – offen deklariert. Haltung ohne Belehrung.
  6. Haltung ohne Zeigefinger. Fragen statt Urteilen.
  7. Rezepte sind Archive. Technik ist Gedächtnis.
  8. Radikale Neugier. Probieren, prüfen, belegen.


Die Sonne hatte Marrakesch in Kupfer gegossen. Der Djemaa el-Fna zischte und rief, als gäbe es eine unsichtbare Kapelle, die alle dirigiert. Rauch hing zwischen Minztee und Mopeds wie ein Halstuch, das die Stadt gegen den Abend zog. Ein Mann schob einen Wagen mit dampfender Brühe – braune Schnecken, schwarze Augen wie Kommas.

Tony sagte: „Wenn ein Markt ein Satz ist, dann sind das die Punkte.“ Ich sagte: „Ich mag Punkte.“ Wir setzten uns an einen niedrigen Holztisch, bauten die Ellbogen wie kleine Festungen, und die erste Schnecke machte „plopp“ aus dem Haus, als wäre sie selbst überrascht.
„Wie heißt du?“, fragte Tony den Schneckenmann. „Abdellah“, sagte er. „Meine Brühe ist zehn Jahre alt. Jeden Tag ein bisschen älter. So wie ich.“Tony nickte ernst, als hätte er eine medizinische Wahrheit gehört. Ich hörte zu, und in meinem Kopf machte jemand Noten aus dem Dampf.

Wir zogen weiter, weil Märkte die Sorte Orte sind, die einen an der Jacke nehmen: Hier, schau, schau noch. An einer Garküche lagerten Tajines wie ruhende Vulkane. Ein Junge mit einem Löffel größer als sein Unterarm rührte in einer Orangensoße, die aussah, als hätte sie das Licht mit gekocht.

„Scharf?“, fragte er. Tony: „Wir wollen wahr.“ „Wahr kostet nicht extra“, sagte der Junge trocken, und ich beschloss, ihn zu mögen.

Die Tajine schmeckte nach Geduld und Knochen und dem leisen Triumph, der entsteht, wenn nichts anbrennt, weil jemand dableibt. Tony kritzelte: „Geduld: unsichtbare Zutat.“ Ich notierte: „Knochen erzählen besser als Filets.“ Dann stritten wir kurz darüber, ob Zwiebeln lügen. Tony sagte ja – wegen der Süße. Ich sagte nein – wegen der Tränen.

Später am Grill: Spieße, die in Flammen kurz die Form ihrer Zukunft sahen. Ein alter Mann drehte sie, als wären es Radioknöpfe. „Woher kommst du?“, fragte Tony. Der Mann antwortete nicht. Er sah auf die Glut, dann auf uns, dann wieder auf die Glut. Das Schweigen hatte Gewicht, und wir trugen es.

Erst als er das Fleisch abstreifte, sagte er: „Mein Bruder ist im Norden. Er schickt Bilder vom Meer, das er nicht sieht.“ Tony klappte das Notizbuch zu. „Wir essen“, sagte er leise. „Und merken uns den Satz.“

Gegen Mitternacht war der Platz eine Oper, in der alle die Hauptrolle spielten. Musiker spannten Rhythmen wie Wäscheleinen, Akrobaten ließen die Schwerkraft verlegen werden, ein Erzähler hielt mit bloßen Händen einen Kreis aus Menschen zusammen. Wir tranken Tee, bis der Zucker uns Mut gab, später Bier, dann Whisky. Ich verlor die Zahl der Gläser und fand ein Wort: Zeuge. Das passte zu uns. Nicht Tourist, nicht Richter. Zeuge – jemand, der stehen bleibt, wenn es interessant wird.
„Siehst du das da?“, sagte Tony und deutete auf einen Mann, der neben der Garküche Sitze aus Kisten baute. „Er verkauft nicht nur Spieße. Er verkauft Raum. Wer sitzen kann, bleibt länger, redet mehr, kauft mehr. Macht und Essen – es ist nie weit auseinander.“ Ich kaute, dachte und sagte: „Dann ist Minze Verhandlungssache.“ „Genau“, sagte Tony. „Und Zucker ist Bestechung.“ Wir lachten – das Lachen von Leuten, die wissen, dass sie recht haben, und trotzdem nicht wichtig werden wollen.

Spät in der Nacht, als der Platz kurz einatmete, standen wir wieder bei Abdellah. Die Brühe war dunkler geworden, der Dampf zarter. „Ihr zwei kommt morgen wieder“, sagte er, als wäre es keine Bitte. „Wir kommen immer wieder“, sagte Tony. „Nur nicht immer hierhin.“

Am Morgen roch das Café nach Zitrone. Wir schrieben die Regeln auf, die uns in der Nacht auf die Schulter getippt hatten: Subjektiv, aber ehrlich. Haltung ohne Zeigefinger. Küche als Gedächtnis. Radikale Neugier. Tony schrieb in Versalien: MARKTREISE. Ich darunter, klein: Mit’m Messer unterwegs.

Er grinste. „Und wer ist das Messer?“ Ich: „Ich bin nur das scharfe Messer. Du bist der, der damit Geschichten schnitzt.“ Er: „Quatsch.“ Und genau da wussten wir, dass es stimmt.



Jahre später – andere Halle, andere Luft, dasselbe Prinzip. Eine Stadt, die ihren Namen gern auf Beutel druckt. Die Markthalle frisch gestrichen, Schilder in Schrift im Instagram-Look. Eine Influencerin balancierte ein Croissant auf einem Cappuccino, als wäre Schwerkraft verhandelbar.

Wir stellten uns neben den Bäcker, der die Croissants gemacht hatte. Er sah zu, wie sein Werk fotografiert wurde, sagte aber nichts. Tony zupfte mich am Ärmel: „Frag ihn nicht, was er davon hält. Frag ihn, wie lange sein Teig ruht.“ „72 Stunden“, sagte der Bäcker, ohne dass wir gefragt hatten. „Die Kamera ruht nie.“ „Und die Hefe?“, fragte ich. Er lächelte: „Die ist kamerascheu.“

Am Fischstand filetierte eine Frau einen Hering, als würde sie jemandem die Haare schneiden, der ihr vertraut.
„Wie viel Stille passt in so einen Schnitt?“, fragte Tony. „Zwei Atemzüge“, sagte sie. „Drei, wenn die Klinge neu ist.“
In der Ecke, wo der Putz abblätterte, saß ein Mann hinter einer Kiste mit Äpfeln, die nicht alle schön waren. Ein Schild: 2. Wahl – schmecken trotzdem.
„Was ist das für eine Sorte?“, fragte ich. „Die, die übrig bleibt“, sagte er. „Wie heißt du?“ „Murat.“ „Und warum hier, in der Ecke?“ „Weil hier die Leute stehen bleiben, die Zeit haben.“ „Und reicht es?“, fragte Tony.
Murat sah uns an, als wäre die Frage ein Brathähnchen, das man nicht roh anfassen sollte. „Genug ist für mich: Miete, Essen, zwei Bücher im Monat.“ Er strich mit dem Daumen über den Apfel, als wäre es ein Radio mit Rauschen. „Manchmal ist genug nur: Morgen nochmal.“

Wir hätten einen hübschen Text über charmant krumme Äpfel schreiben können. Aber die Regel „Wahrheit statt Perfektion“ hielt uns am Ärmel. Wir schrieben stattdessen über Murats Bücher: eins über Migration, eins über Pilze. „Pilze?“, fragte Tony. „Die erklären mir, wie Dinge verbunden sind, die so tun, als wären sie getrennt“, sagte Murat. „Das ist Märkte pur“, murmelte ich. „Unter der Oberfläche wächst alles ineinander.“

Gegen Nachmittag trafen wir Abdellah wieder – nicht den echten, seine Version. Ein Mann mit einem Suppentopf, aus dem die Stadt sprach. „Probieren?“, fragte er. Wir probierten. „Was ist drin?“, fragte Tony. „Wasser, Knochen, Gemüse, Pfeffer. Und Geduld.“ Ich grinste. Wieder Geduld – die heimliche Zutat, die ohne Rechnung kommt.

Abends saßen wir auf der Treppe vor der Halle. Der Tag knisterte aus unseren Jacken. Ich legte das Messer neben mich, die Klinge kühler als die Luft. „Was bleibt?“, fragte ich. Tony zählte ab: „Gesichter. Sätze. Gerüche. Fragen.“ „Und was fehlt?“ Er sah nach oben, wo die ersten Lichter taten, als wären sie Sterne. „Nichts“, sagte er. „Heute nicht.“

Wir standen auf. Hinter uns schloss jemand eine Rolltür, die klang wie ein Schlussstrich. Vor uns öffnete sich eine Straße, die nach Brot roch. Tony schob mir das Notizbuch zu. „Schreib das Vorwort“, sagte er. Ich blätterte auf die erste Seite – dort, wo „Echt. Ungeschminkt. Die Wahrheit.“ stand – und schrieb: Wir treten ein – nicht als Touristen, sondern als Zeugen. Dann setzte ich den Punkt dorthin, wo die Rolltür eben noch entschieden hatte, dass alles ein Ende hat.

„Morgen?“, fragte ich. „Morgen“, sagte Tony. „Wir haben genug Regeln. Jetzt brauchen wir nur noch Märkte.“

Und irgendwo, in einer Stadt, die wir noch nicht kennen, legt jemand Schnecken in eine Brühe, die jeden Tag ein bisschen älter wird. Wir werden da sein. Wir werden zuhören. Und wenn die Brühe uns etwas erzählt, werden wir sie nicht schöner machen, als sie ist. Nur wahr. Nur warm. Nur so, dass man sie gern liest.